Herausgegeben 2009 von
Ein Hilferuf geht durch die Gesellschaft: Der „Bildungsnotstand“ wird ausgerufen. Die Regierungen sind alarmiert. Sondersitzungen werden einberufen, Kommissionen aus SchülerInnen und Studierenden, Eltern, Lehrenden und Forschenden eingesetzt. Der Finanzminister zögert nicht. 500 Milliarden Euro Soforthilfe für den Aufbau neuer Schulen und Universitäten, Fortbildungszentren für Arbeitnehmer- Innen, Bildungsforen zur Entwicklung zeitgemäßer Lehr-Lernformen. Langfristige finanzielle Absicherung von Bildungseinrichtungen kleiner und mittlerer Größe, geringer Bürokratie und hoher sozialer Durchlässigkeit. Nicht von heute auf morgen, die Regierungen sehen realistisch, aber die Richtung ist klar. Nach fünf Jahren des Um- und Aufbaus Aufatmen: Die statistische Politikverdrossenheit nähert sich ihrem Jahrhunderttief, die Bürgerinnen und Bürger verstehen, kontrollieren und gestalten ihre soziale Umwelt. Gesellschaftliche Innovationen durch demokratische Bildung.
Hiervon sind wir weit entfernt. Bildung wird heute vielmehr sozial segregiert, elitär organisiert und allein auf seine Verwertbarkeit „gerankt“. Bildung wird nicht als Menschenrecht begriffen, mehr noch: die Fähigkeit, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, die Rechte und Pflichten als BürgerIn in einer demokratischen Gesellschaft zu verstehen und mitzugestalten, wird von den Eliten des Landes als überflüssig, wenn nicht gar lästig empfunden. Würde „Bildung als Menschenrecht“ ernst genommen, man herrschte nicht von hohen „Bildungsgipfeln“.
Aus diesem Grunde fanden sich im November 2008 verschiedene Initiativen kritischer Wissenschaft in Heidelberg zusammen, um aus der Kritik der bestehenden Bildungsverhältnisse heraus alternative Realisierungsformen demokratischer Bildung zu diskutieren. Es gilt, die Passivität in innerinstitutionellen Reformversuchen gleichwohl wie die Machtlosigkeit gegenüber landes- und bundespolitischen Entscheidungen zu überwinden und progressiv Alternativen zu entwickeln.
Erste konzeptuelle Überlegungen hierzu möchten wir auf den folgenden Seiten der Diskussion stellen: In einem ersten Teil (A.) werden gesellschaftliche Bildungs- und Demokratieprozesse als Einheit herausgearbeitet und in einem daran anschließenden zweiten Teil (B.) am Beispiel der Universitäten konkretisiert. Im dritten und letzten Teil (C.) möchten wir schließlich erste organisatorische Konsequenzen vorstellen, kurz-, mittel- und langfristig eine Institution für demokratische Bildung zu etablieren.
Die vorliegende Broschüre richtet sich an Lehrende wie Lernende gleichermaßen und hofft auf Gleichgesinnte, das Skizzierte weiter zu fundieren und in eine Realität der demokratischen Bildung umzusetzen.
Dezember 2008
Die AutorInnen und HerausgeberInnen
Organisierung demokratischer Bildung
– Eine Streitschrift, praktisch zu beherzigen
A. Demokratische Bildung
B. Eine neuer Anfang demokratischer Bildung ist nötig und möglich – Am Exempel Hochschulen
C. Organisatorische Konsequenzen
Zusammenfassung zentraler Thesen und Forderungen
Ausgewählte Literatur
* Hier: Download der Broschüre als PDF *
Demokratie bedeutet ein Versprechen gleichrangigen Umgangs von Menschen mit Menschen von allen geschichtlichen Anfängen an. Es wurde nur kurzweilig und annäherungsweise an manchen Orten gehalten. Der Anspruch bleibt. Er bleibt mit den Menschen. In ihnen steckt wörtlich und im übertragenen Sinne die Chance aller Menschen zur Ekstase aufrechten Gangs. Soll Demokratie als Organisationsform von Menschen zustande kommen, dann braucht sie selbstbewusste und handlungsfähige Mitglieder. Kurz: Demokratinnen und Demokraten. Damit alle Personen sich demokratisch verhalten können, bedürfen sie einladender Bedingungen teilzunehmen und teilzuhaben. Im demokratischen Versprechen sind also Menschenrechte enthalten. In ihrem noch unformulierten Kern werden sie angestrebt, seitdem wir von Menschen wissen. Alle Menschen wollen einen allen anderen vergleichbaren Rang genießen. In ihnen steckt das Verlangen, ihre Fähigkeiten frei entwickeln und verwenden zu können. Menschenrechte können nur angeeignet werden und gelten, wenn sie in demokratisch organisierten Gesellungen praktisch zu werden vermögen. Diese können ihrerseits nur dauern, wenn sie sich mit Gruppierungen austauschen, die ähnlich gestaltet sind. Wenn Konflikte friedlich geregelt werden. Wenn Leid aufs äußerste vermieden wird, das Menschen einander antun.
Menschen sind Möglichkeitswesen. Sie sind nicht. Sie haben sich nicht. Sie werden erst (und werden eventuell in ihrem Werden blockiert und enteignet). Menschen werden, indem sie vergesellschaftet werden. Ungesellig könnten sie nicht überleben. Sprechen ist Menschen nicht mitgegeben, kann nur gelernt werden, indem es mit anderen geübt wird. In der Regel mit den nächsten Bezugspersonen. Die gesellschaftlichen Umgangsformen und ihre materiellen Bedingungen sorgen dafür. Ob, wie und welche Möglichkeiten des Menschen ausbildet werden. Ob Menschen ihrem angeborenen Lernimpuls neugierig folgen können. Greifend. Begreifend. Ob und wie sie sich in ihrer sozialen Welt und ihrer natürlichen Umwelt orientieren können. Letztere tritt ihnen immer schon sozial mitgestaltet als fremde und eigene gegenüber. Ob sie sich zurecht finden. Ob sie in die Lage versetzt werden, sich ‚die’ Wirklichkeit zu Eigen zu machen, die sie umschließt. Ob sie verstehen können, was ist, warum es so ist – und, ob es anders sein könnte. Kurzum, ob sie der gesellschaftlichen und selbstverschuldeten Unmündigkeit zu entrinnen vermöchten. Indem der Mut sich in ihnen bildet, sich ihres eigenen, gesellschaftlich mitbestimmten Verstandes zu bedienen. Damit der eigensinnige Habitus mit dem gesellschaftlich geprägten Verstandesvermögen Hand in Hand gehe, bedarf es demokratischer Formen. Sie gewähren das, was mit den gegenwärtig beliebten Metaphern gemeint ist. Dass alle sich auf der gleichen Schultern- und Augenhöhe bewegen. So sind Demokratie und Bildung, so sind demokratische und bildnerische Prozesse innig miteinander verbunden. Sie sind aufeinander angewiesen. Sie müssen in ihren Inhalten und ihren Formen einander angemessen sein (qualitatives und organisatorisches Adäquanzverhältnis).
Personale Fähigkeiten und Verhaltensweisen sind hochgradig von der sozialen Zeit und vom sozialen Kontext abhängig. Das gilt, obwohl menschenrechtlich demokratische Strebungen zu den historisch auffindbaren Grundbedürfnissen des Menschen gehören. Sie können verfehlt werden, wenn ihnen menschliche Gesellungsformen nicht annähernd entsprechen. Die erfüllte Zeit bleibt wie Orplid mein Land. Das leuchtet ferne. Die Art und das Ausmaß, in dem gesellschaftliche Formen den menschlichen Strebungen entgegen kommen oder sie blockieren, hängt von den materiellen Bedingungen ab, die Gesellschaften gegeben sind. Vor allem von Institutionen und Instrumenten, die sich Gesellschaften in ihren geschichtlichen Zeiten schaffen. Damit verändern sie sich selbst. Geschichte beginnt nicht mit dem Menschen. ‚Der’ Mensch ist immer schon nur mit anderen Menschen. Darum sind gesellschaftliche und politische Formen gleich ursprünglich. Gesellschaftlich verändern sie ihre Umwelt und sich selber. „Ich“, „Wir“ und „Es“ hängen wechselbezüglich dauernd zusammen und ändern sich gegenseitig. Darum ist menschliches Leben und das, was Menschen „sind“, immer komplex. Sie sind nie mit einer Formel „identisch“ festzunageln.
In den Jahrzehnten vor und – soweit absehbar – nach der Jahrtausendwende bestimmen zusätzliche Faktoren das, was uns als „Wirklichkeit“ gegenübertritt. Sie (ver-)hindern Menschenrechte, Demokratie und ihnen entsprechende Bildungsprozesse. Dazu gehören:
Zeitbestimmheit ist nicht ohne die der Gegenzeit. Das macht die Möglichkeit aus. Dass Anderes denkbar bleibt und immer erneut aufmuckt. In den Abschnitten I. und II. wurde von historisch anthropologisch findbaren menschlichen Grundbedürfnissen gesprochen. Sie bilden das unruhig entwicklungsfähige Fundament von Menschenrechten und Demokratie vor allen historisch besonderen Formen. Diese Grundbedürfnisse, die sich mit jeder Geburt eines Menschen minimal und essentiell zugleich erneuern, bleiben als Unruhe. Als Einbruchsstellen. Allen überwiegenden negativen Effekten des herrschenden Faktorenkranzes zum Trotz. Von ihnen schreckt die sich mehrende Zahl der als „überflüssig“ disqualifizierten Menschen am meisten. Genauer: sie werden von der Art, wie das Monstrum „Weltgesellschaft“ heute funktioniert, „überflüssig“ gemacht. Die nicht hermetisch abschließbaren oder umfunktionierbaren Bedürfnisse äußern sich im Verlangen nach personaler Selbst- und Mitbestimmung. Das ist der substantielle Haken. Daran kann mit demokratischen Bildungsprozessen angeknüpft werden. Das ist zugleich die Verpflichtung zugleich von all denen, die dessen inne werden, ähnliche Bedürfnisse zu hegen. „Selber laufen“, wie jedes zweijährige Kind verlangt. Und die diese Bedürfnisse, um ihrer selbst willen zuerst, ausagieren möchten.
Diese Devise ist in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts als „Bürgerrecht“ zu schmal gefasst geworden. Sie gilt heute mehr denn je. „Recht“ im Sinne der in allen Menschen steckenden, alle Gesellschaften ausmachenden Notwendigkeit, sich individuell und kollektiv in prinzipiell gleichen Bildungsräumen zu entwickeln. Ein Ur-Menschenrecht! Unterstellt man die heutigen Gegebenheiten, spricht dafür überpurzelnde Evidenz. Wie sollten sich trotz allem apparativen Gestell und seiner Definitionsmacht auch nur die dominanten Interessen erhalten und in interessengemästeten Individuen vorübergehend erfüllen?! Freilich handelt es sich primär um elitäre Evidenz. Ihr entspricht die gegenwärtige Bildungspraxis weltweit. Elitebildungen koste es, was es wolle. Die elitär gezüchtet Verarmten zuerst. Ein von Prüfungen bespicktes Fitnesstraining. Interessenkonforme Leistungsklassen verinnerlichen die Legitimation massiver Ungleichheit. „Begabungsgerechtigkeit“ nannte das jüngst ein protestantisch etikettierter Bischof mit Charaktermaske. Will man jedoch Gesellschaften so organisieren, dass sie und die grobfeinen Unterschiede ihrer Angehörigen nicht zu abhängigen Größen kapitalistisch-wissenschaftlich-technologischer Dynamiken werden, dann sind Bildungsprozesse von der Wiege bis zur Bahre in immer erneuten Anläufen unabdingbar. Bildungsprozesse freilich, die so angelegt sind, dass lebenslanges Lernen der täglich erneuerten Mündigkeit selbst denkender und selbst handelnder Personen gilt. Nur als Ausdruck der Mündigkeit werden die Eigenschaften, flexibel reaktions- und aktionsfähig sich zu verhalten, mobil die eigene Vorstellungskraft bewähren zu können, zu Eigenschaften der Personen. Dann sind sie keine von abstrakt versachlichten Interessen aufgeherrschten Funktionalisierungen. Das ist gegenwärtig der Fall. Angestrebt werden unerträgliche Leichtigkeiten des nicht mehr personalen Seins. Wird „Bildung ist Menschenrecht“ in radikaler, neu und neu gewährleisteter Chancengleichheit so verstanden, dann stellt sie eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe dar. Prinzipiell alle wichtigen Einrichtungen sind jenseits aller Differenzierungen auf mögliche Bildungsprozesse anzulegen. Die industriekapitalistische Arbeitsteilung als Bildungsteilung mit Klassenstruktur ist nicht nur antidemokratisch. Das galt immer schon. Sie widerstrebt den Forderungen der Zeit, soll sich nicht Gewalt unsäglich vermehren. Nur nebenbei sei erwähnt, dass dadurch Institutionen und Tätigkeiten aller Art, jenseits spezifischer Bildungseinrichtungen und konzentrierter Bildungszeiten geradezu sprunghaft an dem gewännen, was am rarsten ist: an sozialer ‚Innovationskraft’. Um es besser auszudrücken: an sachbezogenen Vorstellungen, Probleme zu lösen und mit Mitarbeitenden umzugehen. So könnten Versuche gelingen: „Dauerreflexion“ zu „institutionalisieren“. Bildung aller in ausreichenden zeitlich quantitativen und in ihren Bildungsgehalten qualitativen Maßen vorzusehen, ist erforderlicher denn je. Gewohnheiten, Verhaltens- und Orientierungsregeln, das, was man vormodern „moralische Ökonomie“ genannt hat, geben nicht mehr Halt und leiten nicht mehr an. So problematisch sie wie alle möglichen „Standschaften“ der tief bis zur Gegenwart wirkenden Ständegesellschaft formiert haben mögen. Erfahrung als Weitergabe erworbener Einsichten und Fertigkeiten ist darum mehr zu Ballast geworden. Umso mehr bedarf es verallgemeinerter Fähigkeiten, Abstraktionen wie Riesenaustern zu öffnen und ihrer Interesseninhalte (Interessen/Funktionen) gewahr zu werden. Umso mehr ist es erforderlich, die sich hetzenden, meist technologisch glatten Innovationen in ihren sozialen Voraussetzungen und Folgen einschätzen zu können. Umso dringlicher ist es, disziplinäre Regeln, wie Nüsse zu knacken, ihren Interessensinn zu erkennen mitsamt dem Segment der von ihnen mitgeschaffenen, aber zu überwiegenden Maßen verstellten „Wirklichkeit“. Dazu ist es geboten, von verschiedenen disziplinären Stollen aus allemal fächerübergreifende Probleme anzugraben und mit den anderen Stollensichten problemgemäßer verstehen und beurteilen zu können. Umgekehrt ist die Fähigkeit auszubilden, die eigenen Interessen aufzudecken, unselbstverständlich wie sie sind, und mit anderen abzuwägen. Die gesellschaftlich-technologischen Zusammenhänge gilt es, jenseits aller segmentellen Fortschritte, zu ergründen. Erst dann ist Urteilen möglich. Verkürzt gesagt: wer gesellschaftliche, von bürgerlichen Formen der Vergemeinschaftung und aus ihnen erwachsende verantwortungsfähige Politik will, der muss die Bedingungen mitschaffen. Sie sind nicht herkömmlich gegeben. Sie müssen neu gefunden und erfunden werden. Auf dass Bürgerinnen und Bürger in die Lage versetzt werden, ihrem Namen als citoyens zu entsprechen. Sie kümmern sich um die Allmende. Sie werden zu Personen erst, wenn sie Politik in der ersten Person Singularis und Pluralis betreiben. Bildung ist Menschenrecht. Diese zentrale Reformdevise verlangt neue Bildungsformen und Bildungsinhalte rundum.
Der gegenwärtige Zustand lässt demokratische Institutionen und ihnen zugehöriges Verhalten nicht zu. Das ist das höchste Hindernis demokratischer Bildungsprozesse. Schon die Größenordnungen lassen repräsentativ-demokratische Institutionen symbolisch leerlaufen. Wäre emsiges Verhalten im Gewusel eines Ameisenhaufens ein valides Indiz, nahezu nichts wäre demokratisch auszusetzen. Tatsächlich sind nicht nur die Bürgerinnen und Bürger als Wählende im Raum abgehobener Politik systematisch überfordert. Sie werden als solche nicht gefordert. Die Ressource demokratische Legitimation durch (Wahl-)Verfahren wird deshalb nur benutzt, um die Zirkulation der politischen Elite zu regeln: Herrschaft auf Zeit. Gerade die Repräsentanten sind überfordert. Bis hinauf zu den direkt oder indirekt gewählten Spitzen der politischen Exekutive. Sie verhungern ohne politisch lebendige Informationsströme zur Daseinswelt der vermeintlich Repräsentierten. Die Parteien taugen für diese Aufgabe längst nicht mehr. Sie entstanden als „Transmissionsriemen“ von „unten nach oben“ seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Die Repräsentanten aller Stufen scheitern an der Überzahl der Aufgaben. Sie verlieren sich in ihrer Komplexität. Trotz einem hohen Grad der Verrechtlichung werden sie ökonomisch extraterritorial bestimmt. Privatheit fungiert als Hegemon der Öffentlichkeit. Politik – in der Regel auf eine eigene Kunst der Langsamkeit angewiesen – verfügt über eine furchterregend knappe Ökonomie der Zeit. Sie scheitert schon daran. Sie erlaubt bestenfalls das Lob der Routine vermischt mit einer Politik hektischer Reaktionen. Darum werden die ureigenen Ressourcen staatlicher Politik: die Verfügung über das Monopol legtimer physischer Gewaltsamkeit und die allgemeine Legitimation durch Wahlen als Sicherheitsangst-Management und als Akzeptanztremolo verbraucht. Zutreffender: appellativ missbraucht und als erneuende Potenz trocken gelegt. Das besagt: an allgemeine Interessen der Bürgerinnen und Bürger gegen einseitige Interessen privater Machtgruppen kann nicht durchsetzungsstark appelliert werden. Auf diese Weise wird der politische Wirklichkeitsverlust „unten“ wie „oben“ zu einer allgemeinen Erscheinung. „Macht“ als ein Werbe- und Bilderklatsch widerscheint in den sterilen Aufgeregtheiten der Medien. Die politischen Kompetenzmängel von Repräsentierten und Repräsentanten treten nur verschieden in Erscheinung. Sie korrespondieren einander.
Alle Gesamtplanungen sind falsch. Bildungsprozesse sind altersverschieden, in Maßen fähigkeits- und aufgabendifferenziert so anzulegen, sie miteinander zu verfugen. Dass das Zuvor und Danach zusammenstimmen. Das Ziel, übersetzt in den verschiedenen Phasen und an den diversen Orten, lautet: das größtmögliche Maß an Urteilskraft zu sozialisieren. Das heißt Einbildungskraft für sich und andere in eigenanderer Welt. Das heißt Kenntnisse dessen, was wirklichkeitsprägend der Fall ist. Das heißt über Kriterien und deren Gründe zu verfügen, die perspektivisch, zeit- und problemgebunden zu urteilen erlauben. Damit verbunden ist die Einsicht in die Grenzen eigenen Urteilens. Außerdem das wissende Nichtwissen darüber, was aus der allemal prekären Einsicht für weitere Einsichten und fürs Handeln folgt. Urteilen verlangt die Zusammensicht zentraler Bestimmungsgründe menschlichen Denkens, Handelns und Fühlens. Es heischt ebenso danach, die methodisch und perspektivisch divers erkannten Segmente dessen, was wirklich erscheint, wechselkritisch miteinander als differenzierte ‚Totalität’ zu erfassen. Erst die pointiert doppelte Zusammensicht erlaubt personale und gesellschaftliche Verantwortung (griech: syneidesis; lat: con-scientia! Ge-wissen heißt also urteilsfähiges Zusammenwissen der in der Fülle gegebener Faktoren und Andersartigkeiten geschulten Einbildungskraft –, das Gegenteil deutsch-protestantisch missverkannt unergründlicher Innerlichkeit. Das Als-Ob-Gewissen).
Über Universitäten ist angemessen nur zu sprechen, sieht man die vor- und nachgängigen Bildungsprozesse mit den universitären zusammen. Das, was vorschulisch und schulisch vorausgeht. Das, was erwachsen- und vor allem berufsbildnerisch danach kommt. Die Tore der demokratisch bildenden Universität sind weit zu öffnen. Kein Nummerus clausus sortiert. Der schulische Weg zur Universität kennt Stadien, aber keine qualitativ verschiedenen Schultypen mit dazwischen gestellten Hürden des Übergangs. Schulen sind als Ganztagseinrichtungen zu organisieren. Dieses Postulat gilt selbstredend nur, wenn die nötigen Voraussetzungen dafür geschaffen und als angemessen erprobt sind. Schulen sind im Umfang der Schüler und Lehrer so klein zu halten. Sonst ist der Typus der „verwalteten Schule“ nicht zu vermeiden. Er kommt zusätzlich durch den disziplinierend hektischen Wirrwarr staatlicher Regulierungen von Schülern und Lehrern zustande. Um der demokratischen Qualität der Schule willen finden die Schulen nicht eng verpackte Lehr- und Lernvorgaben vor. Sie sind in hohem Maße frei, sich die offenen Standards anzueignen und sie umzusetzen. Sie werden qualitativer Vergleiche willen nach vorgängigen Diskussionsprozessen gesetzt. Der kleine Umfang der Schulen erlaubt eine Willens- und Entscheidungsbildung, an der prinzipiell alle Gruppen gleichberechtigt teilnehmen: Schülerinnen und Schüler, LehrerInnen und Eltern. Lehre und Lernen werden so geformt, die Fächer zeitlich konzentriert zu behandeln. Sie werden also im Wochen-, gebotenen Falls im Monatsrhythmus hintereinander-, nicht täglich parallel ‚geschaltet’. Kein Schaschlik-Curriculum an nur ermüdendem Zeitspieß. Zugleich wird mit den Fächern so problembezogen vertraut gemacht – vereinbarte Ausnahmen bestätigen die Regel –, dass der Devise „learning by doing“ in gebotenen Mixturen gefolgt werden kann. Dadurch wird es wenigstens in vierteljährlicher Folge möglich, schon früh Differenz und Zusammenhang der Fächer an Problemen zu erörtern und mehrend erkenntnistheoretisch-methodische Überlegungen anzustellen. Und sei es, wie die Schwalben ihren hungrig schnäbeloffengesperrten Jungen. Die Devise „learning by doing“ schließt je nach Altersstufe und Thema variierend ein, Spiel-, Bastel-, Sport und handwerklich-experimentelle Elemente vielfältig hinein zu nehmen. Neugier, Lehr-, Lernspaß und erste Freuden, begründet urteilen zu können, sollten angeregt werden. Sie müssten sokratisierend eine tägliche Chance erhalten. ‚Was ist das eigentlich, was wir gerade getan haben?’ Das, was Simone Weil die „Gymnastik der Einbildungskraft“ genannt hat. Schulen dieser sozialen und lehr-lernenden Dichte bedürfen für Lehrende wie Lernende im Wechselspiel auf schiefer Ebene einer Fülle sich gegenseitig anerkennender Gaben und Gegengaben. Dazu zählen Versuche, den Stand des jeweiligen Wissens und Könnens gemeinsam und individuell herauszufinden. Auch durch Formen der Klausur oder anderer Darstellungen. Dazu gehören keine in Zahlen verkürzt zusammengezogenen Noten, vor allem keine Noten als negative Diskriminierungen und Ausschlussformen. Das übt Kadavergehorsam. Allenfalls jahrgangsübergreifend sind Pass-Fail-Entscheidungen zu treffen. Auch sie enden nicht im pauschalen und zugleich in seiner Härte eindeutigem (Macht- und Herrschafts-)Urteil. „Nicht bestanden!“ „Nicht versetzt!“ „Darf die Schule nicht weiter besuchen!“ Oder gegen Ende: „Kann in einer Universität nicht aufgenommen werden!“ Konsequenz: vermag später nur schlecht qualifiziert angestellt und bezahlt zu werden. So wird schulisch heute schon vorweg strukturelle Arbeitslosigkeit programmiert.
Das, was nach der Universität kommt, konstituiert deren kognitiv-habituelle Wirklichkeit und Wirksamkeit gleichermaßen. So wie die Universitäten und ihre Fächer allen zur individuellen Wahl stehen, so stehen alle Berufe offen, nun durch die selbst gewählten Schwerpunkte zugespitzt. Garantiert ist, dass der aktuelle Arbeitsmarkt und die ihm folgende Nachfrage nicht vorausgreifend das universitäre Geschehen in Lehre, Lernen formieren und blockieren (und nicht im Einzelnen akzentuierte Forschung). Garantiert ist ebenso, dass alle, die von der Universität abgehen, Berufe im weiten Sinne finden können. Diese müssen die nötigen materiellen Lebensbedürfnisse zufrieden stellen. Sie dürfen außerdem nicht primär in „Maloche“ bestehen. Sonst wird nicht nur, wie dies tatsächlich millionenfach geschieht, gegen Kants wichtigsten kategorischen Imperativ verstoßen, der allen Menschenrechten zugrunde liegt: Dass kein Mensch primär als Mittel, als Objekt behandelt werden dürfe. Sonst, so das implizite Wissen, verwandele er sich, abhängig von einem solchen, zwangsweise. Anders kann demokratische Teilnahme für einen Großteil der Bevölkerung nicht dekliniert und vor allem handelnd konjugiert werden. Demokratie ist ohne den überwiegenden Teil der arbeitsspezifisch und/oder arbeitslos blockierten und zwangsbornierten Bevölkerung unbeschadet ihrer sonstigen Institutionen und Funktionen halbseitig gelähmt. So nicht zusätzlich ohnehin learning by working gilt, ist für alle Berufe ein regelmäßiges, lernerfülltes Sabbatical vorzusehen. In diesem gilt es zum einen, dem Erkenntnisstand berufsbezogener Forschungen und praktischen Einsichten zu folgen (und das nicht pharmaindustriell arrangiert wie beispielsweise bei einem Gutteil der Mediziner). Zum anderen ist die überfachliche, die überberufliche Problemsicht und Urteilsfähigkeit in aktuellen Kontexten zu üben.
Die Universität(en), wie sie gegenwärtig leiben und leben, sind den Erfordernissen demokratischer Bildung in einer Demokratie strukturell und funktional und damit zuerst und zuletzt kognitiv wie habituell zuwider. Die neun Wirklichkeit spiegelnden, ‚realuniversiären’ Notate belegen es („Realuniversitär“ wurde analog zu „realpolitisch“ gebildet. Das heißt: Die herrschenden Bedingungen werden hingenommen, wenn nicht emphatisch angenommen und hier politisch dort, noch mehr pervers, wissenschaftlich unterstrichen. Vgl. Karl Ludwig von Rochau: Realpolitik, 1854).
Die wissens- und wahrheitsfeindliche Universität als Ausdruck des gesellschaftlichen Status quo
Die demokratisch menschenrechtliche Unwirtlichkeit der Universitäten hebt mit ihrer ökonomisch-politischen Gleichschaltung an. Institutionell ausdifferenziert sind Forschung und Lehr-/Lernprozesse so angelegt – vom Portalöffner grundrechtsfeindlichen Numerus Clausus samt Studiengeldern u.ä. nicht zu reden –, dass sie fachlich und forscherlich verwertbar finalisiert werden; dass sie Lehrlinge mit mageren oder fetten Abschlüssen zurichten. Die examinierten Gesellen können zum einen flexibel und mobil eingesetzt oder abgesetzt werden. Zum anderen können herausgehobene Lehrlinge zu Gesellen auf Stöckeln beschuht werden. Damit dem Bedarf an neuen Mitgliedern der Funktionseliten fach- und habituell konform genügt werde. Wissenschafts- und Bildungs- bzw. Fach- und Abschlussklassen sind angesagt. Das ist die brave new university!
Die (Selbst-)Täuschung der Autonomie wird mit dem Alter noch bedrängender
Schon immer war die Behauptung universitärer Autonomie eine eitle oder wohlverpasste Selbsttäuschung der positionell Besitzenden. „Nun nennt man das Vermögen, nach der Autonomie, d.i. frei (Prinzipien des Denkens gemäß) zu urteilen, die Vernunft.“ Das, was Kant 1798 der „unteren Fakultät“ zuschrieb, einer emphatisch unpraktischen, der seinerzeit schier umfassenden „philosophischen“, galt selbst für die neuere deutsche Humboldt-wurzelige Universität nie. Sie war von Beginn an Staatsuniversität. Ihre professionellen Mitglieder, die Ordinarien, staatlich finanzierte Institutsherrn. Sie verhielten sich an erster Stelle als Beamte. Das „nie“ trifft zu, obgleich Humboldts Uni – im kurzen Reformraum nach den „Befreiungskriegen“ von oben mitten in heteronomer Gesellschaft eingepflanzt –, als freie Wissenschaft für freie Menschen angelegt war. Bei Kant heißt es noch in schönem, wenngleich nur verzerrt und verdünnt wirksamem, im NS vollends pervertierten philosophischen Idealismus: „Also wird die philosophische Fakultät“ – zu ihr gehörten selbstredend seinerzeit alle im Verlaufe des 19. Jahrhunderts ausgefällten Naturwissenschaften – „darum, weil sie für die Wahrheit der Lehren, die sie aufnehmen, oder auch nur einräumen soll, stehen muss, in so fern als frei und nur unter der Gesetzgebung der Vernunft, nicht der der Regierung stehend gedacht werden müssen.“ „Autonom“ war die neuere deutsche Universität über lange Jahrzehnte bestenfalls dadurch, dass sie in staatlich und ökonomisch nicht oder nur zum Teil relevanten Fächern und Fachsprengeln über eine Fülle von Nischen verfügte. Insofern traf die oft gebrauchte Metapher vom „Elfenbeinturm“ zu. Die Nischen wurden von den Ordinarien besetzt. Sie waren auch in überwiegend losen Curricula und Prüfungsordnungen zu finden. In ihnen konnte die kleine Zahl der primär männlichen und sozial privilegierten Studierenden geruhsam rennen. Das Losungswort der Studentenbewegung „Soziale Relevanz“ neben dem der „Emanzipation“ wurde seit 1969 erneut reformbürokratisch aufgehoben. Es wurde strikt ökonomisch auf den bundesdeutschen Standort und den internationalen Wettbewerb bezogen. Seinerzeit noch mit Kaltem-Kriegs-Akzent („Sputnik-Schock“). Von dieser zweiten, erheblich veränderten und noch umfänglicheren reformbürokratischen Großuniversität, arbeitsmarktpolitisch dem Wachstum verschworen, führt ein gewundener, aber eher direkter Weg zur heutigen Multiversity: einem mehrere Zehntausende von Studierenden, Laboratorien, Kliniken, zerklüftete Fachkomplexe, Tausende von Lehrenden, Forschenden, verwaltend und technisch Bediensteten, fern liegenden Gebäuden und auseinanderstrebenden Funktionen umfassenden Mensch-Maschinen-Beton-Aggregat. Ohne eine auch nur wolkige gemeinsame ‚Idee’, von sozialen und kognitiv-habituellen Zusammenhängen jenseits grober und feiner Unterschiede funktional privilegierter Geltung nicht zu reden. Das, was unverändert als Uni-Versität bezeichnet wird, wurde und wird vollends von allen Nischen entschlackt. Angesichts hartbeinigerer globaler Konkurrenz lautet das Schlüsselwort: Innovationen. Was immer, nahezu exklusiv techno-logisch, „innoviert“ werden mag, Verwertbarkeit eilt als entscheidender Zusatzwert herbei. Er verleiht dem Schlüsselwort Zauberkraft. Dafür gilt es, das lange Zeit allzu lahme universitäre Management zu straffen, zu zentralisieren und im Sinne des New Public Management mit einem flexibel mobilen ‚Maßstab’ auszustatten: dem lebenden Oxymoron der Dauerevaluationen, einer Sauersüßsuppe also; sprich Evaluationen ohne valide Kriterien („Werte“/values). Stattdessen überflutet eine Fülle abgehoben ermittelter, ihrerseits nur dem Schein nach verlässlicher Informationen. In ihrer Quantität beeindrucken sie jedoch. Also sind sie aussagekräftig in Zeiten, da das verballhornte, aber höchst wirksame „Matthäusprinzip“ den Springpunkt von „Exzellenz“ ausmacht. „Wer da hat, dem wird gegeben, dass er der Fülle habe“. Die Geldvergabegremien, angefangen mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft, sorgen als neue Glücksbringer dafür. Nämlich maßlosen Maßstäben. O wissenschaftliche Wahrheit im Haus der Geldwechsler!
Das geradezu systematische Wahrheitsversagen der privilegierten Wahrsager
Ebenfalls idealistisch steckt im Begriff der Autonomie die Annahme wissenschaftlicher Selbstbestimmung. Sozial gefasst meinte das: die universitäre Creme de la Creme, die Ordinarien – Frauen waren nahezu nicht vertreten. Sie hätten sich und ihre Anstalt, die Universität, selbst bestimmt, ausgerichtet an der überragenden Norm von Wissenschaft schlechthin: „der Wahrheit“. Wieweit die auf möglichst andere überzeugende Annäherung an Wahrheit gerichtete Selbstbestimmung je in Spurenelementen zugetroffen haben sollte, sie verkümmerte bald zu privilegiertem Kaffeesatz und allenfalls zu politisch staat- und ökonomiebrauchbaren vereinzelten Kenntnissen. Die Saft- und Kraftlosigkeit ordinärer Selbstbestimmung zeigte sich nicht zuletzt in den selbstverschuldeten Mängeln der Selbstverwaltung und der korporativ weithin geteilten politischen Proskynese ‚dem deutschen Staat’ entgegen (zu deutsch: der Anhündelung; vgl. Paul Klee: „Zwei Herren einander in höherer Stellung vermutend begegnen sich“). Diese Feststellung gilt nicht erst nach 1933. Zwölf unsägliche Jahre lang. Schon am Beginn der Naziherrschaft schlug die peinlichste Stunde deutscher Universität. Nie zu vergessen. Längst vergessen. Im „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 wurden alle professoralen deutschen Juden aus den Universitäten zuerst hinausgeekelt. Unseres Wissens erhob sich öffentlich keine „arisch“ professorale Stimme dagegen. Könnten Institutionen an Scham zugrunde gehen?! 1948 stellte ein Zirkel rühmlicher Ordinarien der nahezu restlos wieder hergestellten Universitäten unbekümmert fest: „Die Universität ist im Kern gesund!“ Die historischen Reminiszenzen besagen heute nur zum wiederholten Male: Ein Lob ehemals autonom stolzer Universitäten in der Vergangenheit führte in die Irre. Es liefe auch in die Irre, gälte es der jüngeren Vergangenheit. Sie ist bestimmt von der allmählichen ‚Resterledigung’, ein Naziterminus, der jedoch die Sache trifft, der geringen Überbleibsel aus studentenbewegter 67er Zeit. Dank dem letzten Schub durch den „Bologna-Prozess“ – besser: dem, was deutsche Bildungsminister und Rektoren für ihn hielten – sind noch vorhandene Spuren prekärer Autonomie institutionell wie habituell ausgefegt worden. Das, was Wissenschaft im verschleiernden Singular genannt wird, existiert nicht einmal mehr in Spurenelementen. Als gäbe es eine Einheit. Als sei diese Einheit von einer überall spürbaren Suche nach Wahrheit und ihr gemäßer Suche nach Unabhängigkeit motiviert. Gotthold Ephraim Lessing und seinem Nathan zum Gedenken. Edmund Husserl hat schon 1935 unter der Überschrift „Die Krisis der europäischen Wissenschaften...“ von einem „Restbegriff“ von Wissenschaft gesprochen, der vorherrsche. Der „positivistische“ Begriff von Wissenschaft und der ihm genügenden Wissenschaften und deren Vertreter hätten „alle Fragen fallen gelassen, die man in den bald engeren, bald weiteren Begriff von Metaphysik einbezogen hatte, darunter alle die unklar sogenannten ‚höchsten und letzten Fragen’.“ Stattdessen messe man in der „geometrischen und naturwissenschaftlichen Mathematisierung [...] die Lebenswelt“. Indem die Wissenschaften und ihre Vertreter distanzlos den „Fleischstöpfen“ folgen, die nach Forschungsmitteln, Instituten, Mitarbeitern und Reputation duften, wird die herrschende Interessenlogik wissenschaftlich überformt und besonders wert-voll. Genauer: sie rutscht mitten ‚ins wissenschaftliche Herz’. Sie bestimmt dessen Pulsschläge.
Herkömmliche Klassenbildung nach innen bildungsgelegt. Alls sei sie „Natur“.
Das, was mit der ökonomisch-politischen Eingemeindung der Wissenschaftler und der global konkurrierenden innovativen Entdeckungsdynamik der Wissenschaften und ihrer Wissenschaftsunternehmer wie selbstläufig geschieht, wiederholt sich nationalstaatlich. International vorgegeben näher in der Ausbildung. Das ist in Deutschland das Neue in der Folge des „Bologna-Prozesses“. (Aus-)Bildung wird nicht nur vor den deutschen Universitäten mit einem sozial diskriminierenden Wall versehen, der seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts durchlässiger geworden ist (einem Klassenwall in deutscher Geschichte: Er ist erst allmählich, in starkem Maße nach 1948/49 durch die Zunahme von Studentinnen, nach 1967/68 durch die Zunahme von Land- und Arbeiterkindern mal kräftiger, mal zarter überwunden worden. Die westlichen Alliierten haben 1947/48 vergebens versucht, das dreigliedrige deutsche Schulsystem zu reformieren und die Uni in ihrer Organisierung liberaldemokratischer zu gestalten). Die schon vor Bologna als Symbol und Symptom teils antrabenden, teils galoppierenden Entwicklungen laufen zusätzlich darauf hinaus, eine innere Klassenbildung der Universitäten zu installieren. In Studiengängen mit kurzatmigem Bachelorabschluss hier, in Magister- und Doktorandenlernläufen dort. Dadurch wird Elitebildung vor und in der Universität verdoppelt. Sie wird sogar verdreifacht, nimmt man die mit aller finanziellen Kraft und anderen bildungsfeindlichen Schikanen geschaffenen Ungleichheiten zwischen den Universitäten hinzu. Das symbolische Kapital, das man in einem prätentiösen deutschen Pseudo-Harvard akkumuliert, übertrifft bei weitem das lebenslang verwertbare Kapital irgendeiner Universität im Mittwesten (auch die Eliteuniversitäten in den USA werden an erster Stelle positionell elitär durch ihre, oft direkt kapitalisierte finanzielle Überlegenheit). Eingeschult wird das mit der Elitespaltung verbundene Bewusstsein, Ungleichheit sei „leistungsgerecht“. Jede/jeder müsse sich selbst zuschreiben, wenn sie an kognitivem Muskelmangel litte. Das Studium wird außerdem generell noch stärker kanalisiert als zuvor. Seine Zeit- wie Notentakte bzw. Sanktionen werden beschleunigt und verschärft. Dass dem so ist, ist in manchen Naturwissenschaften oder der schon lange vom Repetitor dominierten Jurisprudenz und kapitaldogmatischen Ökonomie nicht weiter auffällig. Diese Fächer sind seit langem fachparadigmatisch mit engen Schnürstiefeln versehen. Sollte Einzelnen das Gehen in ihnen zu schwer fallen, gilt der curricular eingebaute Rat, die Universität nach unten zu verlassen.
Galoppierende Fachidiotien
Schon lange trifft zu: Die Studienverläufe, die Prüfungstakte, die Notensanktionen und die Examina mit erwartbar nicht erwartbarem Berufsanschluss bewirken kein Studium, das Selbstständigkeit, Selbstbewusstsein und Handlungsfähigkeit kognitiv und habituell einübte. Das Schimpfwort der Studentenbewegung, „Fachidioten“ würden ausbildet und lehrten professoral, nun wird’s in Studienklassen geteilt, hunderttausendefach personales Ereignis. Nichts gegen gute Ausbildung in einzelnen Fächern. Das Ärgernis besteht in einer mehrfachen Enteignung der human-gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten meist älterer Jugendlicher oder junger Erwachsener in einer ihrer prägsamsten Zeiten. Die erste Enteignung besteht dort, wo die Klassenteilung gerade in Bachelor und Magister, bald in Bachelor und Master stattfindet. Bildungspolitisch wird auf Lebensdauer Ungleichheit eingebildet. Als sei sie Ausdruck der Begabung studierender Menschen, die ihnen wie ein Naturerbe lebenslang sozial gültig zufalle oder nicht. Darin besteht das erste Politikum. Ungleich herrschende Verhältnisse werden pseudowissenschaftlich verstärkt und ins Verhalten der Menschen eingebrannt. Die zweite Enteignung besteht im Bachelor-Studium. Mangelhaft vorbereitet, werden die Behauptungen, die es legtimatorisch begleiteten, Lügen gestraft. Die Rate der Studienabbrecher sinkt nicht. Die Abgänger mit Bachelor-Abschluss finden kein üppiges Angebot zu ihnen passender Berufschancen vor u.ä.m. Das Studium in Bachelor-Form, stoffhuberisch überladen, mit engen Notengamaschen zu durchwandern, führt dazu, dass seine ‚Zöglinge’ nahezu all dessen entbehren müssen, was ein Studium sinnvoll machen kann. Nicht nur einige Fertigkeiten vermittelt zu bekommen. Nicht nur fachspezifisch manchen Stoff auswendig zu beherrschen. Darauf kommt es an: sich in einer problemüberladenen überkomplexen Welt auf eigenen Beinen, mit eigenen Sinnen, mit eigenem Urteilsvermögen zurechtzufinden. Indem von einem schmalen Fachgraben bis in erkenntnistheoretische Hintergründe durchsichtig ins zusammenhängend Weite lernend ins Freie vorgedrungen wird. Das Bachelorstudium ist ein Trimm-Studium ohne Studienqualität. Es ist ein Verrat an den Studierenden. Es ist ein Betrug an einer Gesellschaft, die von Studienabgängern mehr erwartet, als mit Brisen akademischer Arroganz ausgestatteten Gehorsam ohne eigene Vorstellungs- und Gestaltungskraft. Die Geschichte einer geradezu aberwitzigen Enteignung, bedenkt man allein die Zunahme gesellschaftlicher Komplexitäten! Sie geht auch auf Kosten der später durchschnittlich statusbezogen privilegierteren Masterstudierenden. Die Fachidiotie bleibt ihr Muster. Als Exempla im Rahmen nicht naturwissenschaftlich-ingenieurswissenschaftlicher Fächer können die Jurisprudenz, die Volkswirtschafts- und die Betriebswirtschaftslehre gelten. Einübungen in Fachgehorsam! In den ersten Semestern wird Fachsprache gelernt und das Korsett der Methoden angelegt. Wer bedächte Prämissen und Konsequenzen! Und immer schwebt die Notenpeitsche über den Köpfen. Sie trifft in ihren verdinglichten Zensuren alle. Sie verdinglicht dadurch das Studium, fixiert Methoden und kappt Reflexionen. Und dann geht’s scheuklappengerichtet zum Repetitor oder zu Klausurenkursen. An deren Ende stehen fachisolierte, also zugerichtete Scheinprobleme. Auch die studierend besser Gestellten rennen im Spießrutenlauf durch Notenschwerter gehalten. Sie werden kognitiv und habituell nicht reicher. Sie werden ärmer gemacht. Reicher werden sie nur in ihrem möglichen Status. Wenn sie Berufspositionen ergattern, dann winken üppigere Geldscheine. Und darauf kommt es an. Das muss man wissen, will man das wissenschaftliche oder akademische Studium und die Validität seiner Prüfungen evaluieren.
Denkt man an Bildungspolitik und ihre Verkrüppelung junger Menschen in konsequent verkrüppelten und verkrüppelnden Gesellschaften, dann ist man um den Schlaf gebracht
Denkt man an die aktuellen und die anstehenden Probleme in der Nacht, die problembewusste, urteilsfähige Köpfe verlangten, dann wird Stillehalten Schuld. Es ist ein Kennzeichen etablierter Pseudopolitik, die sich mit medialem Anerkennungsöl salbt und in ihrer Machtlosigkeit täuschen lässt, dass verräterische „Bildungsgipfel“ den Eindruck vermitteln, als sei dort eine Art Schlafkrankheit ausgebrochen. Über sie können sterile verbale Aufgeregtheiten nicht hinwegtäuschen („Macht“ wird an dieser Stelle mit Hannah Arendt als die Fähigkeit verstanden, machen, sprich gestalten zu können). Sonst müsste die Katastrophe erkannt werden, dass selbst die am besten ausgebildeten Bürgerinnen und Bürger urteilslos dahindümpeln. Die Katastrophe ausdifferenzierter Wissenschaften nämlich. Ihr gemäß verstehen selbst fachlich nahe Wissenschaftler einander nicht. Beispielsweise Medizinerinnen und Mediziner, die neurologische oder orthopädische SpezialistInnen sind. Gelernt zu kooperieren hat man ohnehin nicht. Dass das kooperierende soziale Ganze mehr ist als individualistisch zugespitzte, verbogene Teile von Virtuosenwissen. Damit können Wissenschaften, ihre Ergebnisse und Anwendungen nicht angemessen genutzt und kontrolliert werden. Diese Katastrophe wird lehr-lernend fortgesetzt. Sie wird vorab grundgelegt. Nicht links und rechts schauen, durchs langgestreckte Laufställchen und seine seitendichten Stäbe schnell hindurchrennen. Dann Examen. Vorweg oder danach sich zusätzlich spezialisieren und so fachweiter und disziplinfort lauten die Verhaltenspostulate. Die Wortmünze „Interdisziplinarität“ (neuerdings von ähnlich goldflittriger Dreckgüte: „Transdisziplinarität“) ist festrednerisch so abgegriffen, dass sie niemand mehr ohne Furcht vor der Krankheit oberflächlichen Geschwätzes in den Mund nehmen mag. Wie aber sollte jemand auch nur sein Fach verstehen, genauer das schmale Segment seiner Diplomarbeit, wenn er die Prämissen des Fachs und seine Stellung im Rahmen der anderen „Wirklichkeitswissenschaften“ nicht einmal ahnt? So kommt es nicht von ungefähr, dass die Universitäten bestenfalls mit vorurteilsvernisteten jung-alten Leuten aufwändig bevölkert werden. Sie entlassen in ihren Vorurteilen nie aufgeklärte Menschen in die gesellschaftlichen Berufe. Der vorurteilsgefasste Ring ist allein mit einem kleinen Fachkristall kognitiv verhärtet worden. Das macht den Karriereweg vorleuchten. Das macht, dass die Karriere nicht von herrschenden Wegen abweicht. Kurzum: Der mehrfach teure tertiäre Bildungssektor, vor allem die Universitäten und die von ihnen Gebildeten, versäumen das am meisten, worauf es am dringlichsten ankäme: Dass mit neu ausgebildeten jungen Erwachsenen sich die Gesellschaft erneuerte. Dadurch könnten Gesellschaften ihren neuen Aufgaben der Chance nach gerechter werden. Das ist die demographische Katastrophe, von der niemand redet. Dass Gesellschaften rund- und anderes erneuerten Problemen gemäß selbst besser rüsteten, könnte nur geschehen, wenn die Bürgerinnen und Bürger, die die Chance besaßen, sich fünf, sechs und mehr Jahre auf ihre eigene (Aus-)Bildung zu konzentrieren, zu zoa politika, zu politischen Wesen im Sinne von Aristoteles zu werden vermöchten. Sie verstehen zwar die „Technika“ ihrer erlernten Berufe. Sie vermögen aber nicht ihre spezifischen Fertigkeiten vor dem Horizont des gesellschaftlich Allgemeinen zu handhaben. Fachidioten im besten Falle.
Die notorisch unterschätzte qualitative Bedeutung der Banaliät von Größenordnungen
Größe, Zahl, Quantitäten, Geschwindigkeiten – ob die damit bezeichneten Faktizitäten zu banal sind? Sie dürften gerade dann nicht umgangen werden. Die Banalität der Größe, der quantitativen Erstreckungen wird von den Inhaltshubern meist wie sonstige Formfragen unterschätzt. Dies geschieht, obwohl geradezu ein Gesetz die kapitalistisch globale und die politisch herrschaftlich (inter-)nationale Wirklichkeit regiert. Größer, Mehr, darum besser. Max Weber hat mit gutem Grund öffentliche und private Bürokratisierung für unvermeidlich gehalten. Sie stelle eine Folge der wachsenden Größenordnungen dar. Man bedarf geschulter Professionals, um riesige Einheiten zu verwalten. Aus einem Instrument wird das Heer der Verwaltungsangestellten zum hauptsächlichen Organ der Bestimmung. Weber nannte es alltägliche Herrschaft. Dieses Heer, gleichviel ob öffentlich oder privat, bestimmt in hohem Maße die Ziele der jeweiligen Korporation, indem sie sie interpretierend umsetzt. Wirksam ist eine Büro-Kratie in ihrem jeweiligen Kontext gerade dadurch, dass sie von Besonderheiten absieht, insbesondere dem ärgerlich Besonderen, genannt eine Person. Ihre Effizienz besteht darin, ihre allgemeinen Büroregeln abstrakt anzuwenden. Prokrustes als das alte, nun mehrdimensional und universell gesetzte Vorbild. Die Definitionsmacht der Informations- und Kommunikationstechnologie als eine Art bürokratischer Extremismus beruht darauf. Er übertrifft herkömmliche Bürokratien an Abstraktionsvermögen ebenso, wie an pointilistischer Treffsicherheit im elektronisch nahezu zeitlosen Takt. Im Zusammenhang des Forschungs- und Lehrbetriebs zählen die Größenordnungen der Zahlen gleichermaßen. Ebenso findet eine interne Bürokratisierung / Technologisierung dessen statt, was Wissenschaft und Lehr-Lernprozesse bedeuten. Die Makrophysik riesiger Organisationen und ihres Macht- und Mittelbedarfs bedingt von oben nach unten die Mikrophysik ihrer Macht- und Mittelverteilung. Das aber bedeutet unter anderem nahezu durchgehend riesige Universitäten. Sie zerfallen schon ihrer Größe halber in vielerlei Segmente. Statt sozialer und entsprechend kommunikativer Kerne werden sie als Konglomerate durch den Aufwand und den Umfang ihrer Forschungs- und Lehrprodukte zusammengehalten. Diese werden ihrerseits durch die Konkurrenz mit anderen Wissenschaftskonzernen im Sinne eines Managements von oben einheitlich gepresst. Der viel berufenen Interdisziplinarität mangeln in Lehr-Lernen und Forschung die sozial kleinräumlichen Bedingungen. Evaluation, die sich als regelmäßige Prozedur für jedes Fach wie für die Fächer insgesamt von selbst verstehen sollte (freilich von der ‚alten’ Universität sträflich borniert versäumt worden ist), scheitert schon an der qua Größenordnung erzwungenen Abstraktion disziplinärer und personaler Besonderheiten. Darum hapert es an allen anderen Kriterien außer quantitativen. Das ist die Stunde des virtuell dem Anscheine nach vollends aseptisch gewordenen Geldes. Darum werden alle Qualitäten in die Qualität des Geldinteresses unter der Maske purer Quantität und ihres Allvermögens verwandelt. Handelte es sich bei den Universitäten und ihren Einrichtungen um potentiell reflexive Einrichtungen mit Inseln der Aktualisierung, dann bedürfte es miteinander verfugter, sozialer Selbstorganisationen. Schon die Größen und gleichschaltenden Konkurrenzordnungen blockieren eine solche.
In den Sümpfen der Konkurrenz und des Ufers der Distanz versacken allemal prekäre Vernünfte
Was Wunder: Wissenschaften in Forschungen und Lehren und im Lernen entbehren ihres Eigensinns. Und damit ihrer potentiell wichtigsten gesellschaftlichen Funktionen: der Distanz; einer anderen Ökonomie der Zeit; der Kritik; der wenigstens konzeptionellen Erneuerungen. Alles Eigenschaften, die in oft heteronomem Plural zu fassen wären. Es ist an der Zeit, die Fülle der universitären Täuschungen zu durchbrechen. Sie heben mit den geschmacklosen, jedoch Toren betörenden Titeltümmeleien an. Diese Forderung gilt gerade dann, wenn man ideelle Elemente möglicher und nötiger Einheit nicht gänzlich aufgeben will. Dazu gehörten: Die grundlegende Einheit der Wissenschaften. Die Einheit der Lehre ausgerichtet auf das Ziel: die Einübung in Urteilskraft. Die Einheit der Forschung, ihr konstitutives und zugleich regulatives Prinzip der Wahrheit im Chor der Lessing’schen Wahrheiten. Das sokratische Wissen um die Grenzen allen Wissens zusammen mit der dauernd pulsenden kritischen Neugier, die keine Prämisse unbefragt in Ruhe lässt: Was ist es eigentlich, was im Projekt X herausgefunden werden soll. Wem nützt es auf welche Weise wann. Sind die Lehr-Lernformen so angelegt, dass sich reflexives und urteilsfähiges Wissen der Chance nach unter allen Beteiligten ausstreuen kann (ein anderer logos spermatikos)? Fragen über Fragen samt einem fast deprimierenden Chor vager Halbantworten. Was also trägt die angeblich zu erwartende Innovation zu welchem Fortschritt für wen bei. Wie werden die Grenzen des jeweiligen Wissens offen ausgekundschaftet. Welche kognitiven wie praktischen Konsequenzen werden daraus gezogen? – Der Mangel an organisatorisch gewährleisteter sozialer Distanz wirkt sich am meisten negativ aus. Darum stellen die aktuell prägenden Wissenschaften und ihre Wissensmachtformen längst in ihrer Hermetik und Unübersichtlichkeit selbst nicht mehr verantwortlich zurechenbare Probleme dar. Gerade die Wissenschaften haben im Zug ihres enormen Wachstums, ihrer Ausdifferenzierung, ihrer oft fast unmittelbaren gesellschaftlichen Relevanz, unausgepackt wie sie meist bleibt, durchgehend versäumt, angemessene Formen wissenschaftlicher Öffentlichkeit, der verantwortlichen Zurechnung, der Mitbestimmung und der Kontrolle zu entwickeln.
Konturen einer demokratischen Universität in einem demokratischen Kontext – Konkret utopisch; sprich prinzipiell möglich; angesichts heutiger Anforderungen dringender denn je; jedoch nicht im Kontext herrschender Bedingungen. Darum zuerst und vor allem: als Grundlage und Horizont von Analyse, Urteil und eigenem Handeln:
(a) Im Anschluss an die Schule(n) stehen die Hochschulen allen offen. Wer am Beginn des 21. Jahrhunderts auch nur über minimale Chancen verfügen soll und will, angebliche seine/ihre Grund- und Menschenrechte zu verstehen und mitbestimmend wahrzunehmen, der/die braucht einen langanhaltenden Bildungsweg.
(b) Wie die Schulen zuvor sind die Umfänge der Hochschulen klein zu halten. 3000 Studierende und Lehrende liegen als Richtzahl nahe. Sie soll zum einen Fächer aller aktuell präsenten Fakultäten umfangen. Sie soll zum anderen jeder inneren Bürokratisierung wehren. Eine Größenordnung wie diese fördert Übersichtlichkeit, Mitbestimmung und Zusammenarbeit über die Fächergrenzen. Sie macht eine akademische Kommunität möglich.
(c) Disziplinäre Unterschiede sind nicht mehr aufzuheben, selbst wenn Zahl und Ausdifferenzierung der Fakultäten eine Bestandsaufnahme und eine Begründung der Fächer, auch eine Rekombination derselben verlangen. Das aber hat zur Folge: Einer problemorientierten Eingangsphase folgt eine eher fachbornierte Phase. Sie wiederum weitet sich in eine dritte Etappe. In dieser wird problembezogenes forschendes Lernen gefördert. Der Zaun des fachlichen Schrebergartens ist zu überklettern. Nun sind die „Wirklichkeitskonstruktionen“ anderer Fächer wahrzunehmen und mit denjenigen des primär gelernten Fachs zu vermitteln. Immer erneut bedarf es der dialektischen Übung von „Abstrakt“ und „Konkret“, von „Allgemeinem“ und „Besonderem“.
(d) Um zum Urteilen disziplinär und überdisziplinär zu befähigen, sind andere Lehr-Lernformen dringlich. Einige andere Formen werden an dieser Stelle nur aufgezählt. Sie sind curricular in ihren nötigen Inhalten und Formen zu übersetzen. Hierbei gelten wenigstens dreijährige, maximal fünfjährige Experimentierklauseln. Lehr-Lerneinheiten in Wochen, Monaten, Jahren. Problem- bzw. fallspezifisches Lernen, in dem die Zahl der behandelten Disziplinen aus dem Problem erwächst. Bei dessen Lösung werden sie erkenntnistheoretisch-methodologischer Zusammensicht zusammengeführt. Dafür sind verschiedene Verfahren des learning by doing anzuwenden. Vom Schreiben- und Darstellenlernen, über Teilnehmende Beobachtung, experimentelle Inszenierungen bis zur Formulierung und Anwendung von Gesetzen – um spitzfingerig einige Aspekte diverser Disziplinen heraus zu greifen. Da Urteilsbildung ein zentrales Ziel allen Lehr-Lernens darstellt, zusammen mit der Förderung fachlicher und überfachlicher Vorstellungskraft, kommt es darauf an, erkenntnistheoretische Seh- und Turnkünste in praktischer Philosophie in jeder Studienphase in allen Fächern zu betreiben. So zu verfahren mag anfangen mit Platons Höhlengleichnis, dem vorgängigen der Linien ineins mit einer anhaltenden experimentellen Materialisierung von Methoden und ihres erkennenden Sinns. Praktizierte und zugleich ihrerseits in den Bedingungen der Möglichkeit getestete Ideologie- und Fetischkritik versteht sich von selbst.
Oder: was heißt es, den (unmöglichen) Versuch zu wagen, konservativ an zentralen Versprechen der Uni erneuernd festzuhalten, jedoch teilweise radikal andere Inhalte und neue Formen dazu erproben zu wollen
Als Grundstein einer demokratischen Universität ist ein „Institut für demokratische Bildung“ aufzubauen, dessen primäre Aufgabe zunächst in der Entwicklung von modernen Lehr-Lern-Konzepten – immer an Problemen exemplifiziert – und der Zusammenführung bereits bestehender Initiativen demokratischer Bildung besteht. Sowohl inhaltlich als auch organisatorisch und finanziell konzipiert muss das Institut dabei seine Unabhängigkeit von Partei- oder sonstigen Interessen unterstützender Trägergruppen bewahren.
Ein Institut für demokratische Bildung ist in seinen Strukturen partizipativ anzulegen. Neben einem möglichst klein gehaltenen administrativen Kern sollen die vielerorts bereits existierenden, lokalen Initiativen für mehr Demokratie, Wissenschaftskritik und Kritische Wissenschaft miteinander ins Gespräch gebracht und in die Entwicklung des Instituts eingebunden werden. Ziel dabei ist gerade nicht die Anpassung oder gar Subsumierung der lokalen Gruppen unter ein dominantes Überdach, sondern die gemeinsame Organisierung und Bündelung von Interessen bei der Förderung demokratischer Bildung. Beteiligte Gruppen haben die Möglichkeit, ihre personellen und finanziellen Kapazitäten wie auch ihre jeweiligen Kompetenzen kollektiv zu koordinieren und in gemeinsame Bildungsprojekte zu investieren, ohne ihre primäre Arbeit direkt vor Ort zu vernachlässigen. Analysen von aktuellen Bildungs- und Gesellschaftsprozessen werden damit lokal fundiert und überregional reflektiert. Konzepte werden im Rahmen des Instituts, in einzelnen Arbeitsgruppen und konkreten Bildungsangeboten erprobt und in ihrer Übertragbarkeit auf größere (Hoch)Schulkontexte weiterentwickelt.
Auf der Herbsttagung 2008 des Heidelberger Forums tauschten sich verschiedene Initiativen aus. Im Laufe des Jahres 2009 soll eine Arbeitsgruppe konstituiert werden, die ein erstes inhaltliches wie organisatorisches Konzept zur Gründung eines Instituts für demokratische Bildung erarbeitet. Hierfür sind neben den bereits involvierten Akteuren weitere an diesem Projekt Interessierte erforderlich, insbesondere, um die ersten in Form und Inhalt aus den heutigen Reihen tanzenden Bildungskurse möglich zu machen.
AnsprechpartnerInnen sind derzeit:
(A.) Menschenrechte und Demokratie bedingen sich gegenseitig. Die Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten und die Ausbildung eines eigenständigen Urteilsvermögens ist nur in einer sozialen Umwelt möglich, die demokratisch geprägt ist.
Ob und auf welche Weise das jedem menschlichen Wesen ureigene Streben nach Menschenrechten Verwirklichung findet, hängt daher hochgradig von den materiellen Bedingungen der Gesellschaft ab. Gegenwärtig behindern Prozesse der Globalisierung, die getrieben durch das Konkurrenzprinzip weltweit Formen von Ungleichheit und Herrschaft schaffen, die Durchsetzung von Menschenrechten und Demokratie. Gewaltige Macht-Agglomerate, der Weltmarkt sowie eine zunehmende Bürokratisierung durch IuK-Technologien prägen das Gesicht des aktuellen Kapitalismus. PolitikerInnen wie BürgerInnen sind überfordert angesichts der überhand nehmenden Komplexität der globalen Gesellschaft; die einzelnen Menschen sind kaum mehr in der Lage, an ihrer sozialen Umwelt gestaltend mitzuwirken.
Dennoch bleibt das Verlangen nach einer menschenwürdigen Existenz, beinhalten die in jedem Menschen auffindbaren Grundbedürfnisse das Versprechen eines möglichen Anderen. Bildung ist Menschenrecht! lautet die Devise, wenn sozialer Ungleichheit entgegengewirkt und mündige Bürger wachsen sollen. Um die Menschen zu selbstständigem Urteilen und Handeln in einem politischen Gemeinwesen zu befähigen, ist eine verallgemeinerte Bildung – über die Grenzen der einzelnen Disziplinen hinweg – unabdingbar. Jedoch beruht demokratische Bildung auch auf materiellen Voraussetzungen: Nur Formen des Lehrens und Lernens, die frei von ökonomischen Imperativen sind, ermöglichen autonomes Denken und das Gestalten einer demokratischen Gesellschaft.
(B.) Doch was hat man sich unter demokratischer Bildung vorzustellen? Ziel ist es, das größtmögliche Maß an Urteilskraft zu sozialisieren. Dies lässt sich nur umsetzen, wenn vor- und nachuniversitäre Bildungsprozesse mitgedacht werden:
(a) Schulen sind in kleinem Umfang und selbstbestimmt zu organisieren, die Unterrichtsformen bedürfen des „learning by doing“ sowie Übungen im eigenständigen Denken –, nicht aber einer disziplinierenden Notengebung.
(b) Nach dem Studium sollten alle Berufe zugänglich sein; es sollte jedem ein Beruf garantiert werden, der nicht in purer Ausbeutung besteht. Zusätzlich sind Sabbaticals anzusetzen, die berufsbezogenes Wissen vermitteln sowie überberuflich die autonome Urteilsfähigkeit fördern.
Wenn man die heutigen Universitäten betrachtet, dann sind diese weit entfernt von den Erfordernissen einer demokratischen Bildung:
Um die konkrete Utopie einer demokratischen Bildung in ein realisierbares Programm übersetzen zu können, sollten folgende Forderungen eine Grundlage bilden:
(a) Die Hochschulen stehen allen offen.
(b) Ebenso wie die Schulen sind die Hochschulen von kleinem Umfang und geringer Bürokratie.
(c) Das eigene fachspezifische Wissen wird mit dem anderer Fächer konfrontiert und in einen Zusammenhang gebracht.
(d) Andere Lehr-Lernformen finden Anwendung: längere Experimentierklauseln und Lerneinheiten sowie problembezogenes Lernen, das unterschiedliche Methoden und erkenntnistheoretische Ansätze zusammenführt.
(C.) Auf dieser Grundlage streben wir – die AutorInnen und HerausgeberInnen dieser Broschüre – den Aufbau eines „Instituts für demokratische Bildung“ an. Dessen Aufgabe besteht zunächst darin, moderne Konzepte von Lehr-Lernen auszuarbeiten. Es baut auf partizipativen Strukturen auf, die lokalen Gruppen ermöglichen, gemeinsame Projekte zu erarbeiten und durchzuführen.
Zu diesem Zweck ist eine Vernetzung von Studierenden, Schülern und Schülerinnen, Lehrenden und kritischen sozialen Bewegungen unabdingbar. Foren sollen Möglichkeiten für einen kritischen Diskussionsprozess sowie den Informationsaustausch schaffen.
Langfristig orientieren wir uns an dem Ziel, eine öffentlich anerkannte Bildungsakademie zu etablieren. Hierzu ist es aus kurzfristiger Sicht notwendig, zunächst die strukturellen Rahmenbedingungen zu erarbeiten und erste gemeinsame Lehr-Lernveranstaltungen durchzuführen. Mittelfristig gilt es die Finanzierungsgrundlagen zu schaffen, die in sich geschlossene Bildungsangebote innerhalb des Instituts ermöglichen. Schließlich sollen disziplinär spezifizierte Einrichtungen angegliedert und eigenständige Studiengänge eingerichtet werden.
Die ersten Grundlagen für die Gründung eines „Instituts für demokratische Bildung“ wurden auf der Herbsttagung 2008 des Heidelberger Forums erarbeitet. Für nähere Informationen stehen die AutorInnen und HerausgeberInnen dieser Broschüre gerne zur Verfügung; für Anregungen, Kritik und Mitarbeit sind wir offen und dankbar.